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Liebigs Lehrer Karl W. G. Kastner (1783-1857)

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 (2001) (2001)

Martin Kirschke
Liebigs Lehrer Karl W. G. Kastner (1783-1857)
Eine Professorenkarriere in Zeiten naturwissenschaftlichen Umbruchs
450 Seiten, Pb., 38,50 Euro
ISBN 978-3-928186-56-8
Diese Arbeit stellt erstmals Leben und Werk des Pharmazeuten und Hochschullehrers Karl Wilhelm Gottlob Kastner dar.

 

Zusammenfassung und Schlußbetrachtung

Mit der vorliegenden Untersuchung konnte erstmals eine ausführliche Biographie des Pharmazeuten und Hochschullehrers Karl Wilhelm Gottlob Kastner vorgelegt sowie sein literarisches Werk vorgestellt werden. Leben und Wirken wurde dazu möglichst vollständig erfaßt und sowohl positive als auch negative Stimmen zu Kastner berücksichtigt, die Aussagen überprüft sowie bewertet. Diese Beschreibung zeigte die Einflüsse, denen ein Professor in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ausgesetzt war. Anhand seines Lebens wurden Veränderungen in den Naturwissenschaften und besonders der Chemie sichtbar, wenngleich sein eigener Karriereverlauf nicht mit dem Aufstieg der Chemie korrelierte, sondern Kastner eher von deren Entwicklung "überrannt" wurde. Aufgrund der guten Quellenlage war es möglich, diesen Aufstieg zu zeigen sowie durch die Darstellung von Kastners Leben ein detailliertes Bild des politischen, wirtschaftlichen und sozialen Umfeldes zu zeichnen.

Kastners Leben nahm seinen Anfang in einem protestantischen Elternhaus im pommerschen Greifenberg. In Swinemünde begann der Fünfzehnjährige dann eine Apothekerlehre, führte erste Analysen durch und erhielt daraufhin durch die Vermittlung Klaproths eine Stelle als Apothekergehilfe in Berlin. Auch Trommsdorff wurde bereits in diesen Jahren auf ihn aufmerksam. In Berlin konnte er sich durch analytisches Arbeiten in der Apotheke sowie den Besuch von verschiedenen Vorlesungen weiterbilden. Nach einem kurzem Intermezzo im sächsischen Neustadt, wo er die Apotheke von E. F. Struve verwaltete, zog der wissensdurstige und ehrgeizige Kastner im Jahre 1804 in der Hoffnung auf eine Assistenzstelle bei J. F. Gmelin in Richtung Göttingen. Aus persönlichen Gründen kam er dort jedoch nicht an, sondern begann in Jena ein naturwissenschaftliches Studium. Die hier vorherrschende Romantik sowie der romantische Physiker Ritter und der der Nützlichkeit verpflichtete Chemiker Göttling übten auf Kastner einen starken Einfluß aus. Daneben war die Beschäftigung mit den ganzheitlichen Vorstellungen des Chemikers J. J. Winterl, die sich in seinen ersten Lehrbüchern niederschlugen, für Kastner in dieser Zeit prägend. Ihm gelang es, mit seiner Promotion in der universitären Struktur Fuß zu fassen und nach kurzer Tätigkeit als Privatdozent einen Ruf als außerordentlicher Professor für Chemie nach Heidelberg zu erhalten. Dort wurde der verschiedene naturwissenschaftliche Fächer lehrende und intensiv forschende Kastner im Jahre 1810 zum ordentlichen Professor ernannt. Er konnte persönliche Beziehungen aufbauen sowie sein Ansehen sowohl an der Universität als auch über Heidelberg hinaus vergrößern und sich in der Gemeinschaft der Wissenschaftler etablieren. Auch stieg in dieser Zeit seine literarische Produktivität beträchtlich. Er veröffentlichte Lehrbücher, schrieb Rezensionen und arbeitete für verschiedene Zeitschriften und Zeitungen. Daneben ist besonders die intensive und zeitlebens durchgeführte Analysentätigkeit von Mineralwässern erwähnenswert, die bereits Thema seiner Dissertationsschrift gewesen waren. Dieses Gebiet spiegelt eindrucksvoll die unterschiedlichen Aspekte der Person Kastners wider: seine naturphilosophischen Vorstellungen, sein praktisches wissenschaftliches Arbeiten, sein Utilitarismus sowie seine wirtschaftlichen Interessen. Diese waren ein Grund für den ambitionierten Hochschullehrer (und aktiven Freimaurer) Kastner, im Jahre 1812 nach Halle zu wechseln. In diesen Jahren der politischen Unruhe in Europa unterrichtete er dort bei steigendem Zuspruch Chemie und Physik und verstand es, mit seinem freien Vortrag die Studenten zu fesseln. Auch an dieser Universität setzte sich Kastner – wie bereits in Heidelberg – intensiv für die Errichtung eines chemischen Laboratoriums für die praktische Ausbildung ein, das jedoch nicht gebaut wurde. Die in Halle eingeschränkte literarische Tätigkeit läßt sich mit den Befreiungskriegen erklären, an denen Kastner ab 1813 wie viele Professoren und Studenten teilnahm. Vom Wunsch beseelt, Opfern der Kampfhandlungen finanziell zu helfen, ging Kastner schließlich mit der Zustimmung Hardenbergs nach England, um Gelder zu sammeln. Dies gelang ihm ebenso, wie es dazu beitrug, sein Interesse an der dortigen Wissenschaft und Wirtschaft zu befriedigen. Die Eindrücke und Anregungen, die er auf dieser Reise in verschiedenen ausländischen Staaten sammelte, sollten ihn später noch beeinflussen. Kastners politisches Engagement offenbarte sich besonders in Bonn, an dessen neugegründete Universität er auf eigenes Drängen berufen wurde. Hier wurde er sogleich zum Dekan ernannt und sogar als Vizerektor vorgeschlagen. Der auch in der evangelischen Gemeinde engagierte Kastner setzte sich für einen empirischen Unterricht ein und versuchte besonders, die schlechte wirtschaftliche Lage der Bevölkerung zu verbessern. Dies wird eindrucksvoll in dem von ihm herausgegebenen "Deutschen Gewerbsfreund" sichtbar. Aufgrund seiner nationalen und patriotischen Gesinnung geriet Kastner aber in die sogenannte Demagogenverfolgung. Nicht ohne Grund fühlte er sich vom preußischen Staat überwacht und eingeschränkt, so daß er mit Freude im Jahre 1821 einen Ruf an die Hochschule im bayerischen Erlangen annahm. Dieser Universität blieb er bis zu seinem Tode treu. Bis dahin betätigte er sich intensiv auf literarischem Gebiet und in der Lehre, während sein politisches Engagement in Erlangen erlahmte. Kastners religiöse Einstellung offenbarte sich in dieser Zeit außer in seinen Lehrbüchern und in von ihm gehaltenen Reden besonders in der Mitarbeit im Missionsverein, in dem er gemeinsam mit seinem Freund Schelling tätig war. Hier wurde vor einem streng christlichen Hintergrund zu Nächstenliebe und sozialen Aktivitäten aufgerufen und entsprechend gehandelt. Zu den zahlreichen Zuhörern Kastners gut besuchter Vorlesungen gehörte in dieser Zeit u. a. Justus Liebig, der ihm von Bonn gefolgt war. Er nahm wie andere Studenten auch am z. T. empirischen Unterricht teil, der sich am ehesten als demonstrativer oder experimentell begleiteter charakterisieren läßt. Kastners Tod schließlich beendete sein lebenslanges Bemühen um bessere Bedingungen für die Lehrtätigkeit und Ausbildung seiner Schüler.

Soweit zum Leben Kastners, das er selbst teilweise mit Elementen aus Goethes "Wilhelm Meisters Wanderjahre" verglichen hat, wobei er wohl die Bedingtheit und Begrenztheit des Menschen, die Zwänge und Einschränkungen, die sein Leben beeinträchtigten, sowie seinen Ordnungssinn vor Augen hatte . Die vorliegende Biographie als solche stellt aber nicht das entscheidende dieser Untersuchung dar. Vielmehr wurde versucht, am Beispiel einer bestimmten Person Einflüsse des Umfeldes auf diese zu untersuchen und Zusammenhänge zwischen den Lebensumständen eines Naturwissenschaftlers und seinem Werk darzulegen. So konnte gezeigt werden, wie Kastner geprägt wurde durch sein protestantisches Elternhaus, die Romantische Naturphilosophie und bestimmte Personen, mit denen er in Kontakt kam. Deutlich traten die politischen Verhältnisse sowie die wirtschaftliche und soziale Lage hervor, die Kastners Handeln maßgeblich beeinflußten. Hinzu kamen persönliche Faktoren wie sein Wissensdurst, sein Ehrgeiz und seine Herkunft aus einer nicht begüterten Familie, die miteinander in Beziehung stehen. All dies bewirkte schließlich, daß sich Kastner für die Bildung auch der unteren Schichten einsetzte, daß er die Not der Bevölkerung pragmatisch zu lindern suchte, und daß er eine Verbesserung der praktischen naturwissenschaftlichen Ausbildung anstrebte. Erst vor dem Hintergrund der Verhältnisse seiner Zeit ist sein beruflicher Werdegang einleuchtend, erst die speziellen Einflüsse können seine ganz eigenen wissenschaftlichen und naturphilosophischen Ansichten erklären. All diese Elemente spiegeln sich außer in seinen Taten auch in seinen Werken wider. Gemeinsam erlauben sie einen Einblick in die Zustände einer bestimmten Epoche. Zu bedenken ist dabei jedoch, daß sich diese Ausführungen – wie alle Darstellungen von Einzelfällen – natürlich nur bedingt verallgemeinern lassen.

Besonders wichtig bei dieser Untersuchung war, eine genaue Beschreibung der Verhältnisse im Fach Chemie zu liefern und dessen Probleme in universitären Strukturen zu Beginn des 19. Jahrhunderts zu verdeutlichen. Nur vor diesem Hintergrund können die Taten Kastners angemessen beurteilt und sein Handeln verstanden werden. Hier wurden die Tendenzen des 19. Jahrhunderts – die verstärkte Spezialisierung, die Ausbildung von Disziplinen und die Fächertrennungen – ganz offensichtlich. Gerade in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts ist es zu Veränderungen und Entwicklungen gekommen, die die (Natur) Wissenschaft bis heute maßgeblich geprägt haben. Einblick in diesen Prozeß sowie durch die Betrachtung einer Person einen lebendigen Eindruck der Verhältnisse in den Naturwissenschaften zu Beginn des 19. Jahrhunderts zu erhalten, war ein wichtiges Anliegen der vorliegenden Arbeit.

Diese Arbeit sollte speziell unter dem Aspekt der Anerkennung betrachtet werden, die Kastner zuteil wurde. Dabei wurde offensichtlich, daß er die Erfolgskriterien des beginnenden 19. Jahrhunderts erfüllt hat, nicht aber die des späten 19. und 20. Jahrhunderts. Vielen heute gültigen Ansprüchen konnte er nicht entsprechen: er hatte kein klares Forschungsprogramm, konnte sich keine Schülerschaft aufbauen, zeichnete für keine theoretischen Innovationen verantwortlich und hinterließ keine wesentlichen Erfindungen. Seine Erfolge lagen auf anderem Gebiet: er besaß ein fundamentales Wissen, das er aufgrund seiner Fähigkeiten als Lehrer seinen Studenten weiterzugeben verstand, er förderte das Gewerbe und war der Nützlichkeit verpflichtet. Außerdem war er lokal sehr aktiv, sowohl auf wissenschaftlichem – z. B. in Gesellschaften – als auch auf sozialem Gebiet. Daß diese Leistungen zu seinen Lebzeiten hoch geschätzt wurden, zeigt die Anerkennung, die er in Form von Auszeichnungen, Mitgliedschaften, lobenden Aussagen, Achtung durch Staatsmänner und Rufen an verschiedene Hochschulen erfahren hat. Dieser zumeist positiven Bewertung durch Zeitgenossen steht eine fast durchgängig negative durch die Nachwelt gegenüber, deren Anforderungen er nicht genügte. Schließlich gilt bis heute die Kreativität als ein ganz wesentliches Zeichen des Erfolges . Das war im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert noch nicht der Fall und auch Kastner konnte diesen Ansprüchen nicht gerecht werden. Entsprechend wurde in dieser Untersuchung sichtbar, wie sehr die Bewertung von Kastner – sowie der von ihm gutgeheißenen Romantischen Naturphilosophie – zeitgebunden ist. Weiterhin zeigte sich, daß in den letzten Jahrzehnten viel Negatives kritiklos aus der Literatur des beginnenden 20. Jahrhunderts übernommen wurde. Ein erneutes Interesse an seiner Person und der Bedeutung der Romantischen Naturphilosophie für die Entwicklung der Naturwissenschaften konnte aber für die letzten Jahre nachgewiesen werden.

Einordnend läßt sich sagen, daß Kastner – obgleich erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verstorben – mit vielen seiner Eigenschaften und Tätigkeiten eher dem 18. als dem 19. Jahrhundert zuzurechnen ist. Das kommt nicht zuletzt in seinen Werken deutlich zum Ausdruck. In manchen Punkten mag seine Person widersprüchlich erscheinen, z. B. wenn er hochspekulative Ansätze verfolgt und gleichzeitig die praktische Umsetzung von wissenschaftlichen Erkenntnissen fordert. Doch solche Gegensätze, die dem Verständnis und der Logik der modernen Naturwissenschaft widersprechen und von dieser am liebsten eliminiert werden, sind nur scheinbare . Sie stellen vielmehr verschiedene Seiten eines Menschen dar, der immer Widersprüche in sich trägt. Dazu schreibt Kastners Zeitgenosse und Freund Hegel ganz in dessen Sinne:

Etwas ist also lebendig, nur insofern es den Widerspruch in sich enthält [...]. Wenn aber ein Existierendes [...] den Widerspruch nicht in ihm selbst zu haben vermag, so ist es nicht die lebendige Einheit selbst [...].

Entscheidend für die vorliegende Untersuchung war der Versuch, durch die Biographie einer Person historische Erscheinungen und Veränderungen zu erkennen und Möglichkeiten für eine Erklärung anzubieten. Dabei war es eigentlich zweitrangig, welche Rolle gerade Kastner als Individuum gespielt hat. Und daher sollte diese Arbeit auch keine Würdigung seiner Leistungen sein. Doch weil – wie bereits angedeutet – kein Mensch von (scheinbaren) Widersprüchen frei ist, sollen diese auch dem Autor zugestanden werden, der abschließend einen – zugegeben freundlich gesinnten – Zeitgenossen Kastners zu Wort kommen läßt. Das folgende Zitat ist als ein ausgleichendes Gegengewicht zu dem Ausspruch Liebigs zu Beginn der Einleitung gedacht, so daß sich – ganz den Vorstellungen Kastners entsprechend – die dazwischen stehende Untersuchung als in einem dipolaren Spannungsfeld befindlich vorgestellt werden kann:

Bei den Alten ist Weisheit, aber bei den Neuen wenig Witz und viel Einbildung. Möge der Himmel noch manches Jahr dem hochverehrten Nestor der Chemiker und Physiker zur Wirkung vorbehalten haben, damit die Wissenschaft nicht gar verflache und vor den Wellen der seichten Köpfe mit ihrem einseitigen atomistischen Hypothesensande von unwägbaren Materien und organischen Radikalen überdeckt werde. Denn das Leichte und Seichte schwimmt oben, aber das Gediegene fällt zu Boden, drum wohl uns, dass wir in Kastner noch einen Mann besitzen, welchem es darum zu thun ist, aus jenem Sande das Gediegene zu fördern.

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