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Mühlpforte Nr. 1 und die Physikalische Chemie an der Universität Halle

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 (2017) (2017)

Frank Kuschel
Mühlpforte Nr. 1 und die Physikalische Chemie an der Universität Halle
Die Geschichte eines universitären Refugiums
164 Seiten, 68 Abb., Pb., 19,80 Euro
ISBN 978-3-86225-108-7
Zur Geschichte der Physikalischen Chemie an der Universität Halle und ihrem historischen Gebäude­komplex.

 

1  Einführung

Gelegen in Halle (Saale) unterhalb der Moritzburg, gegen Süden von den Mauern des Domgartens eingefasst, an der Westseite vom Mühlgraben begrenzt, nur wenige Fußwegminuten vom Marktplatz entfernt, kann der Besucher das verlassene, nunmehr dem allmählichen Verfall ausgesetzte Anwesen mit der Adresse Mühlpforte Nr. 1 erreichen. Ihm wird allerdings nur ein schmaler Blickwinkel durch das angerostete Eisentor auf den Hof und auf das ehemalige Institut für Physikalische Chemie der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg ermöglicht. Glücklicherweise wird die Trostlosigkeit dieses Anblickes durch die Silhouette der Domnordwand etwas gemildert. Ein wenig freundlicher und übersichtlicher ist die Gebäudeansicht vom Robert-Franz-Ring aus, auch weil der dazwischen liegende Mühlgraben mit den Uferbäumen für Distanz und eine gewisse optische Aufwertung sorgt.

Obwohl also das Äußere dieses Gebäudekomplexes nicht gerade ein architektonisches Glanzstück darstellt, umhüllt es jedoch ein Inneres mit heutzutage vollkommen ungewöhnlicher Anordnung von mehreren Eingängen, von Aufgängen mit geraden oder mit Wendeltreppen, von mit geräumigen Wandschränken ausgestatteten Fluren, von Geschossen mit unterschiedlichen Raumebenen, von einem kleineren und drei größeren Sälen sowie von fensterlosen Kammern. Ganz abgesehen vom Interieur, dem oft ein mehr als einhundertjähriges Alter anzusehen war, gab es beispielsweise, verteilt über das Ganze, da und dort hinter verstellten Türen oder Luken kleine Verschläge mit verstaubtem Schriftgut oder mit nostalgischen Relikten früherer Laborausstattungen. Auf dem Dach des Mittelbaues war einstmals ein Freiluftlaboratorium betrieben worden. Das Herzstück des Objektes bildete die verhältnismäßig gut ausgestattete kleine Bibliothek, die stets eine sehr familiäre Arbeitsatmosphäre bot und in der eine gusseisernen Spindeltreppe zur dreiseitigen Galerie führte.

Der Komplex, im Folgenden auch einfach als »Mühlpforte« bezeichnet, verfügte, wenigstens in den ersten 50 Jahren seines Bestehens, über die für den Lehr- und Forschungsbetrieb notwendige und zweckmäßige Infrastruktur, einschließlich der Direktoren-Wohnräume. Bis in die Achtzigerjahre umfassten die Funktionalitäten: einen Hörsaal mit 150 Plätzen (»Großer Hörsaal«), verbunden mit drei Vorbereitungs- und Sammlungsräumen, einen Hörsaal mit 40 Plätzen (»Kleiner Hörsaal«), einen Seminarraum, zwei Praktikantensäle, die Bibliothek, eine Telefonzentrale, zwei Sekretariate, Chefzimmer, Diplomanden- und Mitarbeiterlaboratorien, eine Elektrowerkstatt, eine Glasbläserei, zwei Dunkelkammern, das Röntgenlabor, ein Chemikalienlager nebst Ausgabe, einen Batterieraum, den Eiskeller, Wägezimmer, eine Hausmeisterwohnung sowie den Heizungs- und Kohlenkeller. Als Dependancen zugehörig waren ferner mechanische Werkstätten sowie Laboratorien im Erd- und Kellergeschoss des Gebäudes am Schloßberg 2 und mehrere Arbeits- und Laborräume im vom Hof aus zugänglichen Souterrain der zoologischen Sammlungen.

In der Mühlpforte waren bisweilen ca. 40–50 festangestellte wissenschaftliche und technische Mitarbeiter sowie Hilfskräfte tätig. Die Zahl der Chemie-Direktstudenten je Studienjahr schwankte zwischen nahezu Null (1927/1928: ein Studienanfänger) und mehreren Hundert (1953: 300 Neuzulassungen); dazu kamen die sogenannten Nebenfächler, d.h. Studenten der Pharmazie, der Medizin, der Biologie, der Landwirtschaft und der Physik. Zeitweilig wurden auch Lehramts-Studiengänge angeboten.

Die Symbiose von historischer, überkommener Baustruktur und dem regen akademischen Betrieb des ausgehenden 20. Jahrhunderts vermittelte dem Anwesenden stets eine eigenartige, keineswegs unfreundliche, eher beruhigende Atmosphäre. Man konnte bisweilen das Gefühl haben, sich im Wirtschaftstrakt einer frühneuzeitlichen, säkularisierten Klosteranlage zu befinden. Immerhin war ein solches Empfinden, auch unter dem Eindruck der unmittelbaren Nachbarschaft zum Dom, insoweit nicht ganz abwegig, als auf dem Grundstück im Mittelalter tatsächlich ein Kloster existiert hatte.

Die Baugeschichte dieses Universitätsgebäudes ist zeitlich und räumlich eng verknüpft mit dem Wirken namhafter Gelehrter und ihrer Mitarbeiter. Diese Verzahnung aufzubrechen und wie zwei Seiten einer Medaille unabhängig voneinander zu thematisieren, erschien nicht sinnvoll. Die Abgrenzung vorwiegend baubezogener von den übrigen Darlegungen soll durch eine abweichende Formatierung erleichtert werden.

Mit dem zunehmenden Alter und unter prekären äußeren Umständen wurde es bis gegen Ende der Achtzigerjahre jedoch immer schwieriger, die Abnutzung und den Verfall der Mühlpforte aufzuhalten. Durch das besondere Engagement der Mitarbeiter und mit beachtlicher Hilfe von außen konnte das Aus für diese außergewöhnliche Lehr- und Forschungsstätte aber noch 20 Jahre aufgeschoben werden.

Unausweichlich hinterließen die politischen und wirtschaftlichen Wechselfälle und Zäsuren der vergangenen 150 Jahre in ihren wissenschaftspolitischen und personellen Konsequenzen auch in der Mühlpforte ihre Spuren. Die Weltkriege, die Inflation und die Weltwirtschaftskrisen, die Nazizeit, in jüngerer Vergangenheit die Teilung und Wiedervereinigung Deutschlands, hatten zeitweise gravierende Folgen für den akademischen Betrieb. Eine eingehendere, ideologierepressive Aufbereitung dieses Geschehens, welches das politische Farbenspektrum ziemlich gleichmäßig ausfüllte, ist nicht Anliegen dieses Abrisses und sollte dem Historiker vorbehalten sein.

Die folgenden Darlegungen sind in großen Teilen kompilatorischer Art und erheben weder Originalitäts- noch Vollständigkeitsanspruch. Sie sollen aber nachdrücklich daran erinnern und aufhellen, dass innerhalb dieses alten und nunmehr stillgelegten Refugiums mehr als 150 Jahre lang ein reges akademisches Leben herrschte, aus dem Legionen von Wissenschaftlern und weltweit anerkannte Forschungsergebnisse hervorgegangen sind.

Die Literaturhinweise sind als Einladung an jene Leser zu verstehen, die sich gründlicher informieren möchten.

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