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»Götter in deren Hand Donner und Blitz liegt«

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 (2010) (2010)

Frank-Peter Kirsch
»Götter in deren Hand Donner und Blitz liegt«
Ausbildung und Forschung der Berliner Militärärzte von 1870 bis 1895
235 Seiten, 25 Abb., Pb., 30,00 Euro
ISBN 978-3-928186-92-6
Über die wissenschaftlichen Beiträge der an die Charité abkommandierten Militärärzte.

 

6 Berliner Militärärzte – Götter in deren Hand Donner und Blitz liegt

Die Ausbildung von Militärärzten für das preußische Heer gehörte seit ihrer Gründung zu den Aufgaben der Charité. Das einleitende erste Kapitel zeigt, dass die Verbindung von Charité und Universitätskliniken als Anreiz zur militärärztlichen Laufbahn gesehen und häufig als Weg zur ordentlichen Professur genutzt wurde. Obwohl es selten an persönlichem Fleiß und Tüchtigkeit der Stabsärzte mangelte, galten sie für die Wissenschaft zunächst als nicht geeignet. Dafür gab es sicher mehrere Gründe. Neben der Ausbildung spielte vor allem die relativ kurze Verweildauer (oft nur wenige Monate) als Assistenzärzte oder Unterärzte in einer Klinik eine entscheidende Rolle. Der alleinige Anspruch der Militärärzte auf die Charité als Lehr- und Ausbildungsstätte führte immer wieder zum Streit zwischen Zivil und Militär. Diese Situation hat sich, wie die vorliegende Monographie zeigt, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, insbesondere in der Zeit von 1870 bis 1895, nach der Ära Esse gewandelt. Das zeigt sich insbesondere mit Blick auf das Betätigungsfeld der Militärärzte.

Das zweite Kapitel behandelt die Ausbildung der Militärärzte, beginnend mit der Pépinière im 18. Jahrhundert bis zur Kaiser-Wilhelms-Akademie für das militärärztliche Bildungswesen Ende des 19. Jahrhunderts. Der Blick ist dabei immer wieder auf das Laboratorium als Ort der wissenschaftlichen Profilierung gerichtet. Der Ausbildungsgang macht deutlich, dass neben einer inhaltlich sehr breit angelegten Ausbildung in den Grundlagenfächern wie Deutsch, Mathematik und Sprachen besonders auf eine militärische Erziehung Wert gelegt wurde, weshalb auch die Zöglinge der Pépinière wie in einem Internat untergebracht waren. Diese strenge preußisch-militärische Erziehung, die eine wichtige Rolle im Erziehungsprofil der Zöglinge spielte und die sich durch die gesamte berufliche Entwicklung der Militärärzte zieht, stand häufig noch vor der fachlichen Ausbildung. Die Ausbildung an der Pépinière unterschied sich jedoch von einem Studium an der Universität. Während ihres zumeist vierjährigen Aufenthalts an dieser Bildungseinrichtung unterlagen die Absolventen einem strengen Reglement und mussten sich zugleich für die doppelte Studienzeit als Militärärzte dienstverpflichten. Die Studenten erhielten zum Ausgleich ein Stipendium. Obwohl sich die Ausbildung an den militärärztlichen Bildungsanstalten (Königliches Friedrich-Wilhelms-Institut und Medizinisch-chirurgische Akademie für das Militär) in medizinisch-wissenschaftlicher Hinsicht nicht unterschied, gab es dennoch geringe Unterschiede in der Ausbildung der Zöglinge. Die Eleven wurden auf Staatskosten unterrichtet, es gab eine Förderung für Begabte und Bedürftige. Sie waren im Hinblick auf ihren wissenschaftlichen Werdegang gegenüber den Volontären, die von ihren Eltern finanziert wurden, bevorzugt. Die Kompaniechirurgen nutzten individuelle Ausbildungsprogramme und legten häufig Zusatzprüfungen ab. Die Etablierung der Akademie stand in engem Zusammenhang mit der Gründung der Universität. Das Kultusministerium strebte nach Gründung der Berliner Universität grundsätzlich an, dass die Studierenden der Universität die gleichen Rechte auf die Nutzung der Lehranstalten der Charité hatten wie die Absolventen der Akademie. Ebenso war mit der Gründung der Universität der Wunsch verbunden, dass sich auch die Akademiker einer freien Forschung und Wissenschaft widmen konnten. Um zu erfahren, aus welchen Elternhäusern die Militärärzte kamen, wie die soziale Herkunft im Vergleich zu den Zivilärzten aussah und ob Schlussfolgerungen für die Berufswahl daraus ableitbar waren, wurde von mir die soziale Herkunft (Beruf des Vaters) von späteren Stabsärzten exemplarisch untersucht. Für viele Schulabgänger waren es ganz einfach finanzielle Gründe für die Berufswahl. Die meisten Ärzte nach 1860 kamen aus beamteten, bürgerlichen Elternhäusern. Wahrscheinlich war aber auch die Tatsache, dass im militärischen Bereich eine schnelle Karriere möglich wurde, die militärärztliche Ausbildung viele Möglichkeiten an praktischer Entfaltung bot und einen gewissen Zugang zur Wissenschaft erlaubte, ausschlaggebend für die Ausbildung zum Militärarzt. In der Zeit von 1860-1900 existierten geringfügige Unterschiede in der sozialen Herkunft zwischen Zivil- und Militärärzten. Der Anteil des Bildungsbürgertums war bei den Vätern der Militärärzte höher als bei den zivilen Ärzten. Es kamen aber mehr zivile Ärzte aus dem Besitzbürgertum. Betrachtet man aber die anderen Schichten (Mittelstand und Unterschicht) zeigt sich nahezu dieselbe Tendenz zwischen Zivil und Militär. Im Untersuchungszeitraum kam kein Militärarzt aus der Unterschicht. Da in den militärärztlichen Bildungsanstalten die Nachfrage nach Studienplätzen anstieg, war es interessant, auch die Aufnahmebestimmungen für die Absolventen im Hinblick auf ihre soziale Herkunft zu untersuchen. Neben Alter, der körperlichen Tauglichkeit, der geistigen Veranlagung und den Schulkenntnissen war insbesondere auch die Herkunft entscheidend. In der Zeit um 1870 hatte sich das Laboratorium in der Medizin einen festen Platz erobert. Im dritten Kapitel wurden dazu die Labore des Militärs (chemische, hygienisch-chemische Labore) in Berlin analysiert. Die bereits etablierten chemisch-physikalischen Methoden des 19. Jahrhunderts, wie Dichtemessung, Gasanalyse, Blut- und Urinanalytik sowie Mikroskopie beeinflussten, wie meine Untersuchungen zeigen, das ärztliche Handeln der Militärärzte. Der Nachweis von chemischen Stoffen erfolgte durch semiquantitative Tests und quantitative Analysen im Labor. Durch die Auswertung zeitgenössischer Publikationen ist es möglich, sich eine Vorstellung davon zu machen, welche Geräte und Instrumente von den Militärärzten verwendet wurden. In der Zeit von 1880-1895 waren dies Apparate wie die Quevennsche Milchwaage, Lactobutyrometer und Mikroskope. Militärärzte haben für ihre Experimente verschiedene Labore genutzt, von denen allerdings viele außerhalb der militärischen Einrichtungen angesiedelt waren. Doch auch die Militärmedizin verfügte über Labore. Meine Untersuchungen fokussieren sich auf das 1879 errichtete Hygienisch-chemische Labor im Garnisonlazarett II in Berlin-Tempelhof, das 1882 ins Garnisonlazarett I (Scharnhorststraße) umzog. Es handelte sich hierbei um chemische Laboratorien, in denen aber auch bakteriologische Untersuchungen, wie die Züchtung von Reinkulturen, Ausplattieren von Bakterienkolonien und Anfärbungsversuche von Mikroorganismen routinemäßig ausgeführt wurden. Wissenschaftliche Publikationen gab es aus diesen Laboren jedoch nicht, sie wurden vor allem für klinische Belange genutzt. Anders war es bei dem Labor, welches im Mai 1890 am Friedrich-Wilhelms-Institut errichtet wurde. Dieses Labor wurde vor allem für Auftragsarbeiten der Medizinal-Abteilung des Kriegsministeriums in Preußen herangezogen und diente als bakteriologisch-chemische Untersuchungs- und technische Prüfstelle u.a. für Zelttuche, Kochgeschirre, Filter und Brot. Der Nachweis von Fortbildungskursen an der Kaiser-Wilhelms-Akademie, für die die Militär-Medizinal-Abteilung des Kriegsministeriums verantwortlich zeichnete, war Voraussetzung für die Ernennung zu Stabsärzten. Hierfür wurde dieses Labor, das in seiner Ausführung heutigen Grossraumlaboren entsprach, jedoch relativ selten genutzt. Die dreiwöchigen Kurse wurden in der Regel in den Laboren bei Robert Koch am Hygienischen Institut bzw. am Institut für Infektionskrankheiten absolviert. Obwohl die Preußische Militärmedizin am Ende des 19. Jahrhunderts durch die Einrichtung neuer Labore »aufrüstete«, wurden diese Möglichkeiten nicht zu einer wissenschaftlichen Arbeit im engeren Sinne genutzt. Wenn Militärärzte sich auf speziellere wissenschaftliche Fragestellungen einließen, so taten sie dies offensichtlich im Rahmen der zivilen Medizin. Im vierten Kapitel habe ich Dissertationsschriften von Militärärzten, die in der Zeit von 1860-1895 an den militärärztlichen Bildungsanstalten ausgebildet wurden, exemplarisch untersucht. Es wurden Doktorarbeiten zu chemisch-biochemischen Experimenten, bakteriologischen Untersuchungen und physiologisch-tierexperimentellen Versuchen geschrieben und somit die gesamte Bandbreite der Grundlagenforschung abgedeckt. Aber auch klinisch relevante Fragestellungen, wie Arzneimitteltestungen, Ätiologie oder Pathologie von Krankheiten doch auch militärmedizinische Forschungen wurden einbezogen. Die meist als Unterärzte auf den Stationen der Charité tätigen Doktoranden wurden dabei von Assistenz- und Oberärzten betreut, die zum Teil eigene Ausarbeitungen und Teilergebnisse zur Verfügung stellten. Von Interesse war in diesem Zusammenhang wiederum, in welchen Einrichtungen speziell geforscht wurde, d.h. welche Labore oder Kliniken dominierend waren, wie die technischen Ausrüstungen oder Geräte aussahen und ob auch das hygienisch-chemische Laboratorium des Friedrich-Wilhelms-Instituts, welches sicher als Zentrallabor der Berliner Militärmedizin angesehen werden konnte, für diese Zwecke genutzt wurde? Ich kam zu dem Ergebnis, dass eigentlich alle laborexperimentellen Einrichtungen herangezogen wurden, die im Bereich der Berliner Charité oder der Medizinischen Fakultät zur Verfügung standen, mit Ausnahme des eher grundlagenwissenschaftlich ausgerichteten Labors des physiologischen Instituts (Vgl. hierzu Tab. 3). Für ihre Untersuchungen und Experimente nutzten die Militärärzte vielfach einfache chemische Analysegeräte (z.B. Kippscher Apparat, Kjeldahl-Apparatur, Soxhlet-Apparatur, Polarisationsapparat) und einfache Laborgläser. Woher die Versuchstiere waren, konnte nicht genau festgestellt werden. Es gibt Hinweise, dass sie teilweise aus der Tierärztlichen Hochschule Berlins stammten. Das hygienisch-chemische Laboratorium am Friedrich-Wilhelms-Institut wurde im Rahmen von Promotionsarbeiten hingegen nur für lebensmitteltechnische Untersuchungen herangezogen. Klinisch orientierte Forschungen wurden hauptsächlich in der Propädeutischen Klinik (spätere II. Medizinische Klinik) oder der Nervenklinik der Charité durchgeführt, wo eigene kleine klinische Labore zur Verfügung standen. Im fünften Kapitel wurde durch die Analyse der Publikationen von Militärmedizinern die Tätigkeit und das wissenschaftliche Know-how der an die Charité abkommandierten Stabsärzte verfolgt. Von besonderem Interesse war dabei wiederum die Analyse laborexperimenteller Forschungsmethoden und wissenschaftlicher Arbeitspraktiken. Dabei standen die »Charité-Annalen«, die »Berliner Klinische Wochenschrift«, die »Deutsche Militärärztliche Zeitschrift« sowie die »Preußische Militärärztliche Zeitung« im Mittelpunkt meiner Untersuchungen. Wissenschaftlich waren die Stabsärzte meist im Bereich der Klinik tätig, wo sie hauptsächlich Arzneimittelversuche und chemisch-mikroskopische Analysen von Blut, Harn und Sputum insbesondere zur bakteriellen Genese von Erkrankungen durchführten. Auffallend war eine Vielzahl statistischer Jahresberichte, die meist von Stabsärzten verfasst wurden. Ob sie dazu abgeordnet wurden oder ob dieses Tätigkeitsfeld bevorzugt in den Bereich der militärärztlichen Assistenzärzte fiel, wissen wir nicht. Es waren nur wenige Arbeiten aus dem Bereich der laborexperimentellen Grundlagenforschung sowie zu speziellen militärmedizinische Fragestellungen (z.B. Stich- und Schussverletzungen) nachweisbar. Bei der Auswertung der »Berliner Klinischen Wochenschrift« von 1870-1895 lässt sich allgemein feststellen, dass neben medizinisch-wissenschaftlichen Fragestellungen hauptsächlich regional-medizinische Probleme Preußens bzw. Berlins abgehandelt wurden. Auch die jährlich im August abgehaltenen Stiftungsfeste der militärärztlichen Bildungsanstalten wurden besprochen und zeigen eine Verbindung zur militärischen Ausbildung an. Von 1870-1895 wurden von insgesamt 11.717 Artikeln lediglich 120 Beiträge (= ein Prozent) von Militärärzten aus dem Friedrich-Wilhelms-Institut publiziert. Das Labor spielte in den Publikationen fast keine Rolle. Die meisten Stabsärzte waren Schüler von Robert Koch, aus dem Kaiserlichen Gesundheitsamt bzw. dem Königlich Preußischen Institut für Infektionskrankheiten (z.B. Löffler, Gaffky, Hueppe, Pfeiffer, Gärtner). Da die Mehrzahl der Arbeiten unter der Rubrik »Original-Mitteilungen« aus den Kliniken der Charité veröffentlicht wurden, kann von der hohen Akzeptanz der Forschungen dieser Ärzte ausgegangen werden. Einen Kontrast zu den eher klinisch orientierten Zeitschriften stellten die Militärärztlichen Zeitschriften dar. Die Publikationen in dieser Zeitschrift zu Fragen der Laboratoriumsmedizin bewegten sich im Zeitraum 1870-1895 allerdings um nur etwa 2 Prozent bei den Originalabhandlungen und Berichten (nicht mehr als 40 Arbeiten von insgesamt 2.530). Neben Publikationen zur Kriegschirurgie, Ätiologie von Infektionskrankheiten, Bakteriologie und Militärhygiene erschienen hauptsächlich Arbeiten zu Trinkwasseruntersuchungen. Am Ende meiner Ausführungen wird deutlich, dass bei der Betrachtung des Betätigungsfeldes der Militärärzte die Kommandierung an die verschiedenen Institute, Labore und Kliniken eine Art Netzwerk bildete. Nicht wenige Stabsärzte erzielten eine wissenschaftliche Karriere, von 1870-1895 gingen von 150 Absolventen des Friedrich-Wilhelms-Instituts 25 Prozent Professoren hervor. Prinzipiell deutet sich also eine »Verwissenschaftlichung« der Militärmedizin in Berlin an. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gab es kein direktes Spannungsfeld zwischen Zivil- und Militärmedizin mehr, denn die Militärmedizin brachte »Götter in deren Hand Donner und Blitz liegt« hervor.

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