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»Götter in deren Hand Donner und Blitz liegt«

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 (2010) (2010)

Frank-Peter Kirsch
»Götter in deren Hand Donner und Blitz liegt«
Ausbildung und Forschung der Berliner Militärärzte von 1870 bis 1895
235 Seiten, 25 Abb., Pb., 30,00 Euro
ISBN 978-3-928186-92-6
Über die wissenschaftlichen Beiträge der an die Charité abkommandierten Militärärzte.

 

1 Einleitung

Die Medizin in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde von der Entwicklung der Naturwissenschaften, insbesondere der Physik und Chemie zunehmend beeinflusst. Die experimentierende Physiologie wurde zur Leitwissenschaft. Es kam zum Ablösen der klassischen Humoralpathologie durch die Pathologische Anatomie, welche die Krankheitsursachen in den Strukturen des Organismus suchte. Auch die Bakteriologie trug zur Durchsetzung des naturwissenschaftlichen Paradigmas bei. Hierbei spielte vor allem die von Louis Pasteur (1822-1895) begründete und von Robert Koch (1843-1910) später ausgebaute Erregertheorie der Infektionskrankheiten eine Rolle. Diese Theorie verhalf auch der Chirurgie zu einem enormen Aufschwung in dieser Zeit, da Prinzipien der Asepsis und Antisepsis aus ihr abgeleitet werden konnten. Der Wandel von einer überwiegend spekulativen zur naturwissenschaftlich-experimentellen Medizin führte zu einem schnellen Erkenntnisgewinn in der Medizin und verbunden mit einem wachsenden staatlichen Interesse an der Gesundheitspolitik, zu einem neuen Stand der Ärzte.

Das naturwissenschaftliche Konzept von Krankheit wurde, wie meine Untersuchungen zeigen werden, durch verschiedene Experimente im Labor, gerade auch durch Berliner Militärärzte, die oft zur Elite in der Medizin zählten, auf den Weg gebracht. Das vorliegende Buch beschäftigt sich mit den Militärärzten, die in der Zeit von 1870-1895 an den Militärärztlichen Bildungsanstalten Berlins ausgebildet wurden und an die verschiedenen Kliniken der Charité oder andere mit laborexperimenteller Ausrichtung ausgelegte Institutionen zur praktischen Ausbildung oder für konkrete Forschungsaufgaben abkommandiert wurden. Es ergibt sich folgende Frage: »Wie haben die wissenschaftlichen Beiträge der an die Charité abkommandierten Militärärzte im Gesamtensemble der »Forschung« ausgesehen und in welchen Fachzeitschriften wurde publiziert?« Am Beispiel des am 10. Mai 1890 am Friedrich-Wilhelms-Institut neu errichteten Labors werden die Publikationen, die aus Experimenten im Labor entstanden, näher untersucht und beschrieben. Dazu wurden einschlägige militärmedizinische und fachwissenschaftliche Publikationsorgane nach 1860 recherchiert und auf ihre unterschiedlichen Inhalte verglichen.

Akademisch-wissenschaftliche Vereine haben im 19. Jahrhundert das wissenschaftliche Leben Berlins entscheidend mitgeprägt. Die Mitgliedschaft in Vereinen stärkte das »soziale Kapital« (Netz sozialer Beziehungen) der Ärzte. Wie zu zeigen sein wird, dienten gerade die Sitzungsprotokolle der »Berliner Militärärztlichen Gesellschaft«, die in der »Deutschen Militärärztlichen Zeitschrift« publiziert wurden, dazu, das wissenschaftliche Ansehen der Autoren zu erhöhen. Um das wissenschaftliche »know how« der Militärärzte einschätzen zu können, wurde insbesondere die Ausbildung an den militärärztlichen Bildungsanstalten Berlins, hauptsächlich im Laborbereich, näher untersucht. In Fortführung dieser Fragestellungen taucht die weitere Frage auf, welche Weiterbildungsveranstaltungen oder Fortbildungskurse angeboten wurden, wie diese organisiert und durchgeführt wurden. Es besteht so die Möglichkeit, Hinweise darauf zu finden, wie sich die Militärärzte qualifizieren konnten. Durch eine systematische Recherche der autobiographischen Angaben in der »Stammliste der Kaiser-Wilhelms-Akademie für das militärärztliche Bildungswesen« war es möglich, das bisher teilweise ungeklärte wissenschaftliche Betätigungsfeld der Absolventen dieser Einrichtung transparenter zu machen. Dazu wurden weiterhin Dissertationsschriften dieser Militärärzte exemplarisch ausgewertet. Biographische Angaben zu den Personen sollen das Bild abrunden. Es werden von mir eine recht große Anzahl von Militärärzten, die in keinem medizinischen Lexikon verzeichnet sind, im Gesamtkontext der medizinhistorischen Situation in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vorgestellt. So wird eine wissenschaftlich fundierte Skizze, die einem einen Einblick in den Karriereweg dieser Mediziner erlaubt, gezeichnet. Ich spreche hier bewusst von »Skizze«, da auf Grund der Komplexität der Thematik der Rahmen für ein fertiges »Gemälde« sicher zu groß ist.

Die Verbindung zwischen dem Friedrich-Wilhelms-Institut und der Berliner Charité war äußerst eng. Die Zöglinge der Pépinière bildeten zusammen mit den Assistenzärzten das Rückrat der ärztlichen Versorgung an der Charité, deren Aufgaben in der Instruktion von 1853 definiert wurden. Die Fortschritte in den Naturwissenschaften, in der Physik, Chemie und der Physiologie ließen viele Ärzte glauben, dass die Anwendung der experimentellen Methode in der Medizin zwangsläufig zu einer Herausbildung einer kausalen medizinischen Wissenschaft führen würde. Da ich auch der Frage nachgegangen bin, inwieweit die Militärmedizin in Berlin bzw. die preußischen Militärärzte durch den Einfluss neuer naturwissenschaftlich orientierter Methoden »verwissenschaftlicht« wurden, sollen auch die klinischen Laboratorien betrachtet werden, da es besonders klinische Laboratorien waren, in denen die Militärärzte u.a. an der Berliner Charité tätig waren.

Des Weiteren wird zu klären sein, wie die Delegierung an verschiedene Institutionen und Einrichtungen in Berlin erfolgte und welche laborexperimentellen Methoden angewendet wurden. Dabei interessieren die Kommandos der Ärzte an das Kaiserliche Gesundheitsamt, an die wissenschaftliche Abteilung des Kochschen Preußischen Instituts für Infektionskrankheiten sowie das Hygiene-Institut der Berliner Universität.

In der Zeit um 1870 hatte sich das klinische Laboratorium im Krankenhaus einen festen Platz erobert, Reagenzgläser, Messinstrumente, Brutschränke und physikalische Untersuchungsapparaturen bestimmten immer mehr die Handlungsabläufe in Diagnostik und Therapie. Arleen Tuchman argumentiert, dass die Herausbildung der experimentellen Physiologie und die Hinwendung zur Laborforschung durch ein politisches und soziales Klima in Deutschland möglich wurde, das geprägt war von einem gesteigerten Freiheitsgedanken, einer materiellen Verbesserung und medizinischen Reformen in der Medizin.

Wie gezeigt wird, gewann in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das Labor auch für die Arbeit der Militärärzte eine zunehmende Bedeutung.

Diese Tatsache war eng verbunden mit der Entwicklung des Militärsanitätswesens in Deutschland, welches in der Dissertation eine Rolle spielen wird. Die Beschäftigung mit der Ausbildung und dem wissenschaftlichen Profil bedeutender Militärmediziner in verschiedenen Institutionen in Berlin, insbesondere der Charité, eröffnet einen Blick in die Geschichte des Spannungsfeldes zwischen Zivil- und Militärmedizin und das häufig unklare Verhältnis. Tuchman spricht auch von einem »verwirrenden Dreieck«, Pépinière-Charité-Universität in Berlin.

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