Verlag für Geschichte
der Naturwissenschaften
und der Technik

Die Pathologie der Person

Übersicht | Inhalt | Zusammenfassung | Einführung

 (1999) (1999)

Martin Lindner
Die Pathologie der Person
Friedrich Kraus' Neubestimmung des Organismus am Beginn des 20. Jahrhunderts
150 Seiten, 1 Abb., Pb., 18,00 Euro
ISBN 978-3-928186-40-7
Über Kraus' Versuch, die neue alte Frage, was ein Organismus ist, am Beginn des 20. Jahrhunderts zu beantworten.

 

Einleitung

Was ist ein Organismus? Was ist ein Individuum? Was ist eine Person? Diese Fragen, die Friedrich Kraus, von 1902 bis 1927 Internist in Berlin, vor allem in seinem Hauptwerk: »Die allgemeine und spezielle Pathologie der Person«, einer Lösung näherbringen wollte, stellte er in einer Situation, in der vielen die analytisch-atomistischen Paradigmen des 19. Jahrhunderts als inadäquat erschienen. Das Ganze wurde wieder Thema. Dies nicht nur bei Kraus. Anfang des 20. Jahrhunderts gewannen verschiedene Konzeptionen Bedeutung, die als Versuche interpretiert werden können, die Ganzheitlichkeit des Lebendigen, eines Organismus, des Psychischen besser abzubilden. Viele dieser Versuche fanden innerhalb der Naturwissenschaften statt. So war das Selbstverständnis z. B. der Gestalttheorie wesentlich dadurch geprägt, neue, synthetische Konzepte für die Wissenschaft liefern zu wollen. Kraus' ?Personalpathologie?, die nicht nur zur Gestalttheorie, sondern auch zur Organismustheorie Oscar Hertwigs, zum »kritischen Personalismus« William Sterns und zum Kontext der später entwickelten Systemtheorie Ludwig von Bertalanffys Beziehungen besitzt, kann vor diesem Hintergrund integrativer Ansätze verstanden werden. Allen gemeinsam ist die Spannung zwischen der analytisch-atomistischen Orientierung empirischer Forschung und dem Bemühen um eine (Re-)Synthese ihrer isolierten Ergebnisse. Der Versuch einer Synthese setzt jedoch für den Personenbegriff noch keine anthropologische Dimension voraus. Person im Sinne Kraus' ist nicht an ein menschliches Subjekt gebunden. Kraus' Person bleibt voranthropologisch.

Nicht nur das Ganze, auch das Spezifische des Lebendigen wurde im biologischen Diskurs nach 1900 wieder zu einem dominanten Motiv. Die qualitative Interpretation der organischen Entwicklung, des Lebens, der »lebenden Materie« bestimmte z. B. Hans Drieschs vitalistische Konzeption der Ontogenese, die lebensphilosophische Ontologie Henri Bergsons einer schöpferischen Evolution und die Theorie des Protoplasmas als einer originären, generativen Lebenssubstanz bei Jakob von Uexküll. Eine historische Schnittstelle vitalistischer und reduktionistischer, romantischer und materialistischer, qualitativer und quantitativer Paradigmen bildete die »Biokolloidologie«. Aus der Konvergenz von Protoplasmatheorie und Kolloidchemie, einer Tochterwissenschaft der Physikalischen Chemie, hervorgehend, stellte sie bis etwa 1930 eines der attraktivsten Forschungsprogramme der Zeit zur Erklärung des Lebendigen dar. Friedrich Kraus unterlegte ihre experimentellen Modelle seiner Theorie der »Tiefenperson«. Die für diese Theorie benutzte Metapher einer ?experimentellen Metaphysik? soll den Doppelaspekt der »Tiefenperson« deutlich machen: sie beinhaltet den Impetus einer physikalisch-chemischen Analyse des Protoplasmas und thematisiert gleichzeitig das Organische im Hinblick auf seine innere Dynamik, eine ursprüngliche, schöpferische Lebensinstanz.

Friedrich Kraus nimmt somit, wie viele andere, eine Mittelstellung zwischen objektivistischen und holistischen Tendenzen seiner Zeit ein. Das Ganze, die Person, bzw. das originäre Ganze, die Tiefenperson, sollten als Kategorien des Lebendigen einer naturwissenschaftlichen Analyse zugänglich und in eine Sicht des Organismus integriert werden, die Objektivität und Phänomenalität verbinden und damit auch eine neue Medizin begründen würde. Die in diese nach der Jahrhundertwende florierende Forschungsprogrammatik involvierten Paradigmen transformierten bzw. verloren sich jedoch im weiteren Verlauf der Wissenschaftsentwicklung, was, neben institutionellen und Rollenaspekten, als Hauptursache für die geringe Rezeption und Bekanntheit von Kraus' Positionen zu sehen ist. Die Geschichte Friedrich Kraus' ist, das zeigt das Fehlen einer nennenswerten historischen Forschung, auch eine Geschichte des Verlorengegangenen. Eine solche Geschichte des Verlorengegangenen macht aber, vielleicht besser als eine lineare Erfolgs-Story, die Historizität des Wissens und die Kontingenz unserer eigenen Situation deutlich. Sie ist keine beklagenswerte Geschichte, sondern öffnet eine komplexe, eine reiche Welt.

Obwohl also die Texte – und Kontexte – Friedrich Kraus' von unserem heutigen Verständnishorizont aus nicht ohne weiteres zugänglich sind, wird sich zeigen, daß sich viele der bei ihm diskutierten Thematiken, vielleicht mit neuem Gesicht, in moderne Diskurse über das Leben, die Organismen und die Natur fortgesetzt haben. Die organismische Systemtheorie Ludwig von Bertalanffys und, in gewissem Sinn, auch die Prozeßmetaphysik Alfred North Whiteheads sowie die nicht-lineare Thermodynamik Ilya Prigogines sind prominente Beispiele dafür. Schließlich sind die Fragen nach der Ganzheit und Ursprünglichkeit des organischen Lebens keineswegs aus unserem eigenen Problembewußtsein verschwunden. Allerdings scheint die Wissenschaft nach Kraus, unsere Wissenschaft, Antworten auf ontologische Fragen – was ist ein Organismus, was ist Leben? – nicht mehr mit der gleichen Überzeugung geben zu können, wie sie im 19. Jahrhundert vor dem Hintergrund des mechanischen Atomismus möglich war. Die Geschichte Friedrich Kraus' ist zum Teil auch die Geschichte der Ablösung und Dekonstruktion des einheitlichen, mechanischen, Naturbilds, das die Einheit der Natur und die Einheit der Wissenschaft begründen konnte. Der ontologische Status und die Möglichkeit eines universellen wissenschaftlichen Diskurses werden zu Beginn des 20. Jahrhunderts relativiert. Die Kontexte Friedrich Kraus' beinhalten auch eine Veränderung der Wissenschaften selbst.

Eingeleitet wird die vorliegende Arbeit durch eine biographische Skizze, die das verfügbare Archiv- und Quellenmaterial zusammenfaßt und den biographischen Weg Kraus' von Prag über Wien und Graz nach Berlin nachzeichnet. Der erste Teil versucht ein Bild von Friedrich Kraus als Persönlichkeit lebendig zu machen. Darüber hinaus geht er auf die Entstehung der »Pathologie der Person« ein und beschreibt die – prominente – Position, die Kraus als Leiter der II. Medizinischen Klinik der Charité und als Mitbegründer und Vorsitzender der Berliner »Gesellschaft für empirische Philosophie« in der ?scientific community? einnahm.

Der zweite Teil bietet eine umfassende Rekonstruktion und Interpretation von Kraus' Theorien. Alle Texte, die er in über dreißig Jahren in der Bearbeitung des »Organismusproblems« veröffentlichte, sind dazu herangezogen worden. Die methodische Schwierigkeit bestand darin, daß Kraus selten eine systematische Stringenz bewahrte, und läßt sich auf die Frage bringen: Wie interpretiert man ein eklektisches Denken? Eine mögliche Lösung dieser Schwierigkeit ergab sich daraus, daß es in den oft sehr assoziativen Texten von Friedrich Kraus trotz allem Grundmotive und thematische Hauptstränge gibt, die immer wieder zum Vorschein kommen und eine Strukturierung aus einer inneren Logik heraus erlauben. Die Darstellung seiner Theorien hält sich daher auch nicht an eine strenge Chronologie; vielmehr schlägt sie eine inhaltliche Systematik vor. Dieser Ansatz ermöglicht, die wissenschaftlichen und philosophischen Thesen sowie die begrifflichen Verschiebungen in seinem Denken herauszuarbeiten.

Mit den historischen Kontexten beschäftigt sich der dritte Teil. Die von Kraus selbst umfangreich rezipierte Literatur, die hier großteils verarbeitet wird, läßt den Problemhorizont abschätzen, in dem er die Schnittstellen zwischen Biologie, Psychologie und Philosophie fruchtbar zu machen versuchte. Ziel des dritten Teils ist, wissenschaftliche, naturphilosophische und erkenntnistheoretische Aspekte dieses Horizonts von Friedrich Kraus zu verdeutlichen und die Beziehungen seiner Konzeptionen der Person und der Tiefenperson zu anderen Modellen der Zeit einer Analyse zugänglich zu machen. Im letzten Kapitel des dritten Teils wird mit der Biokolloidologie ein zu Beginn des 20. Jahrhunderts zentrales, historisch bisher kaum untersuchtes Forschungsprogramm ausführlich dargestellt.

Der vierte Teil, als abschließende Interpretation, führt die im zweiten und dritten Teil gewonnenen Resultate zusammen. Die Hauptthemen bei Kraus werden zusammengefaßt, eine Einordnung in die Wissenschaftsentwicklung des 20. Jahrhunderts versucht. Schließlich werden einige wissenschaftstheoretische Problemstellungen formuliert, die, wie mir scheint, in den dargestellten Kontexten mitenthalten sind und eine Matrix für die moderne Frage nach dem Erkenntnisstatus von (Natur-)Wissenschaft bilden. Der vierte Teil ist somit gleichzeitig als Resümee und als Metareflexion der Analyse zu lesen.

Bedanken möchte ich mich bei allen Freunden und Kritikern, die mich in meiner Arbeit vorangebracht haben. Herr Prof. Dr. Dr. Rolf Winau hat mit dem gewährten Freiraum dieses Projekt erst möglich gemacht. Nicht zuletzt danke ich meinen Eltern für ihre Unterstützung. Die Arbeit ist zu einem großen Teil ein – inhaltlicher und methodischer – Selbstverständigungsprozeß gewesen. Könnte ich sie erneut beginnen, würde sie mich vielleicht zu einem anderen Ziel führen. Dessen ungeachtet kann sie für sich selbst stehen und ihren Gegenstand: Friedrich Kraus' Versuch, die neue alte Frage, was ein Organismus ist, am Beginn des 20. Jahrhunderts zu beantworten.

Übersicht | Inhalt | Zusammenfassung | Einführung