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Zur Frühgeschichte des Elektronenmikroskops

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 (1995) (1995)

Lin Qing
Zur Frühgeschichte des Elektronenmikroskops
163 Seiten, 34 Abb., Pb., 18,00 Euro
ISBN 978-3-928186-02-5
Die erste unparteiische Darstellung des Wettlaufs um das erste »Übermikroskop« zwischen Ernst Ruska und Ernst Brüche.

 

Die Verleihung des Nobelpreises an Ruska läßt eine alte Kontroverse wieder aufleben

Am 15. Oktober 1986 gab die Königliche Schwedische Akademie der Wissenschaften bekannt: »Die eine Hälfte des diesjährigen Nobelpreises in Physik wurde Ernst Ruska für 'seine fundamentalen elektronenoptischen Arbeiten und die Konstruktion des ersten Elektronenmikroskops' verliehen. [...] Es ist eine der wichtigsten Erfindungen dieses Jahrhunderts.«

Konkret lassen sich nach der offiziellen Pressemitteilung folgende Leistungen Ruskas anführen:

1. »Die Entwicklung begann mit den Arbeiten, die Ruska Ende der 20er Jahre als junger Student an der Technischen Hochschule in Berlin ausführte. Er fand, dass eine Magnetspule als Linse für Elektronen fungieren konnte, und dass sich mit einer solchen Linse das Bild eines Gegenstandes erhalten liess, der mit Elektronen bestrahlt wurde.«
2. »Indem er zwei derartige Linsen zusammensetzte, brachte er ein primitives Mikroskop zustande.«
3. »Sehr rasch verbesserte er verschiedene Einzelheiten, so dass er 1933 das erste Elektronenmikroskop mit Leistungen bauen konnte, die den herkömmlichen Lichtmikroskopen deutlich überlegen waren.«
4. »Er trug dann wirksam zur Entwicklung von kommerziellen, im Serienbau hergestellten Elektronenmikroskopen bei.«

In Bezug auf das »erste Elektronenmikroskop« wurde in einer der Pressemitteilung beigefügten »Hintergrundinformation« nochmals betont: »1933 baute er [Ruska] das, was man als das erste Elektronenmikroskop im modernen Sinne bezeichnen kann, d. h. ein Instrument mit einer wesentlich besseren Leistung als sich mit herkömmlichen Lichtmikroskopen erzielen lässt«.

Als »den wirklichen Durchbruch der Elektronenmikroskopie« bezeichnete diese Mitteilung das erste »im Serienbau hergestellte Elektronenmikroskop, das 1939 auf den Markt kam«. Ferner erklärte das Nobelkomitee: »Sowohl bei dieser Entwicklung als auch bei der früheren waren mehrere Forscher beteiligt, doch erscheinen die bahnbrechenden Arbeiten Ruskas als Hauptbeiträge.«

Genauere Hinweise dazu enthielt die Laudatio auf der Verleihungsfeier am 10. Dezember 1986: »Several scientists, among them Hans Busch, Max Knoll, and Bodo von Borries, contributed to the development of the instrument, but Ernst Ruska deserves to be placed foremost.«

Bedeutende Auszeichnungen sind fast immer mit Kontroversen verbunden, und genauso war es auch hier. Die allererste Frage drängt sich von selbst auf: Warum wurde hier eine Erfindung ausgezeichnet, die schon mehr als ein halbes Jahrhundert zurücklag? Alfred Nobel hatte in seinem Testament vom 27. November 1895 verfügt: »The whole of my remaining realizable estate shall be dealt with in the following way: The capital [...] shall constitute a fund, the interest on which shall be annually distributed in the form of prizes to those who, during the preceding year, shall have conferred the greatest benefit on mankind.«

Die Bestimmung »during the preceding year« legte die Nobelstiftung im §2 ihrer Statuten wie folgt aus: »The provision in the will that the annual award of prizes shall refer to works 'during the preceding year' shall be understood in the sense that the awards shall be made for the most recent achievements in the fields of culture referred to in the will and for older works only if their significance has not become apparent until recently.«

Die Preisverleihung für die Erfindung des Elektronenmikroskops entsprach aber nicht dieser Auslegung. Die große Bedeutung des Elektronenmikroskops, das vom Nobelkomitee zu Recht als »eine der wichtigsten Erfindungen dieses Jahrhunderts« bezeichnet wurde, ist nicht erst in den letzten Jahren erkannt worden. Schon längst ist das wichtige Instrument nicht mehr aus der Naturwissenschaft, der Medizin und der Technik wegzudenken. Es liegen andere Gründe vor, die die Auszeichnung dieser Leistung so sehr hinausgezögert haben.
Unmittelbar nach der Bekanntgabe der Preisverleihung meldete sich Peter Busch, Sohn von Hans Busch, zu Wort: Bereits 1928 habe sein Vater die Möglichkeit entdeckt, »Objekte durch die Verwendung von Elektronenstrahlen« sichtbar zu machen. Prof. Joseph Eichmeier, ehemaliger Mitarbeiter Max Knolls an der TU München, schrieb an die »Süddeutsche Zeitung«, daß die ersten Ergebnisse in gemeinsamen Arbeiten von Max Knoll und Ernst Ruska entstanden und auch von den beiden am 10. September 1931 gemeinsam veröffentlicht worden seien. In der wissenschaftlichen Literatur seien deshalb Knoll und Ruska gemeinsam als Erfinder des Elektronenmikroskops anerkannt worden.

Am 24. Oktober 1986 veröffentlichten die »VDI-Nachrichten« einen Artikel mit der Überschrift »Das Ende einer Kontroverse«. Darin hieß es: »Mit dieser Verleihung wird auch, so bleibt zu hoffen, der Schlußstrich unter eine nunmehr fast drei Jahrzehnte [dauernde] Kontroverse gezogen.« Mit dem Stichwort »Kontroverse« warf dieser Artikel eine Reihe von Fragen auf. So sei z. B. die »geistige Vaterschaft« der Elektronenmikroskopie oftmals auch anderen Wissenschaftlern zugeschrieben worden, z. B. Reinhold Rüdenberg, in den 30er Jahren Leiter der Forschungsabteilung der Siemens-Schuckert- Werke in Berlin oder Bodo von Borries, Ruskas Schwager und langjährigem Kollegen. Ruska habe aber den Anteil anderer an seinen Leistungen nie geleugnet. Er habe aber auch alle Versuche, seine Leistungen zu schmälern, energisch zurückgewiesen und sei selbst vor der Androhung gerichtlicher Schritte nicht zurückgeschreckt.

Die hier angeschnittenen Fragen konkretisierten sich bald. Am 21. November und 5. Dezember 1986 veröffentlichten die »VDI-Nachrichten« unter der Überschrift »Das Ende einer Kontroverse – oder fängt sie gerade erst an?« mehrere Leserbriefe. Frau Hedwig von Borries, Bodo von Borries' Witwe, betonte, daß nicht Max Knoll, sondern ihr Mann zusammen mit Ernst Ruska das wichtige Patent vom 16. März 1932 angemeldet habe und daß später bei Siemens ihr Mann, ebenso wie Ruska, für die Entwicklung des Elektronenmikroskops verantwortlich gewesen sei. Daher habe auch das erste ausgelieferte Elektronenmikroskop den Namen »Siemens-Übermikroskop nach Ruska und v. Borries« getragen. Prof. Friedrich Lenz, ein Verwandter Bodo von Borries', meinte, daß aufgrund der Patentanmeldung vom 16. März 1932, welche Voraussetzung für die weitere Entwicklung gewesen sei, es wohl nicht unzulässig sein könne, Bodo von Borries einen »signifikanten Anteil« an dieser Entwicklung zuzuschreiben. Prof. Otto Rang, ehemaliger Mitarbeiter von Ernst Brüche in den Süddeutschen Laboratorien Mosbach, wies darauf hin, daß man bei der AEG unter der Leitung von Ernst Brüche auch an der Entwicklung der Elektronenoptik gearbeitet habe und daß von dieser Arbeit wesentliche Impulse ausgegangen seien. Dieser Meinung schloß sich Frau Erika Schwab-Brüche, Tochter Ernst Brüches, an, indem sie in einem Leserbrief an die »Frankfurter Allgemeine Zeitung« betonte, daß das Wort »Elektronenmikroskop« von Ernst Brüche eingeführt worden sei. Auch in den USA schrieb Hermann Gunther Rudenberg, der ältere Sohn Reinhold Rüdenbergs:

»There was indeed a close interval between Rudenberg's patent disclosure to Siemens on 28 May, 1931, and Knoll's lecture one week later on 4 June, 1931. Even before this lecture Ruska's work of May 1931 had been shown to one of Rudenberg's associates, Steenbeck, who years later wrote to suggest that the Rudenberg patents might have plagiarised or been influenced by Ruska's results of that time. However, Steenbeck could not recall specifically how early he had talked to Rudenberg about Ruska's work.«

Damit ist ein sehr umstrittenes Bild über die Frühgeschichte des Elektronenmikroskops skizziert. Man kann wohl mit dem Redakteur der »VDI-Nachrichten« sagen: »In diesen Auseinandersetzungen »mögen die Gründe liegen, daß eine der 'wichtigsten Entwicklung unseres Jahrhunderts', so das Nobel-Komitee, über 50 Jahre vernachlässigt wurde. [...] In der Tat ist die Entwicklung des Elektronenmikroskops verschlungene Wege gegangen, ein interessantes Kapitel Wissenschaftsgeschichte geblieben.«

Die aufgeworfenen Fragen lassen sich in folgender Weise zusammenfassen:

  • Wie soll die erste Patentanmeldung Reinhold Rüdenbergs beurteilt werden?
  • Welche Beiträge haben Hans Busch, Max Knoll und Bodo von Borries zu der Entwicklung des Elektronenmikroskops geleistet?
  • Welchen Stellenwert hat die Forschungsarbeit der AEG unter der Leitung Ernst Brüches in der Geschichte der Elektronenmikroskopie?

Für die tätigen Elektronenmikroskopiker und Elektronenoptiker sind diese Fragen nicht neu. Sie sind aber durch die Nobelpreisverleihung an Ernst Ruska wieder aktuell geworden.

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