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Wie die Wissenschaft ihre Unschuld verlor

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 (1994) (1994)

Armin Hermann
Wie die Wissenschaft ihre Unschuld verlor
Macht und Mißbrauch der Forscher
271 Seiten, Gb., 8,00 Euro
ISBN 978-3-928186-22-3
Wie die »Führerin in eine bessere Welt« Angst und Schrecken verbreitete: Eine glänzend geschriebene Auseinandersetzung mit der Wissenschaft des 20. Jahrhunderts.

 

Der Mensch und die Wissenschaft

Unfreundlich und launenhaft war die Natur. Hart mußte ihr abgerungen werden, was der Mensch brauchte, um sein Leben zu fristen. Im Schweiße seines Angesichts aß er sein Brot.

Die Alten erzählten von den Plagen, mit denen Gott die Welt heimsuchte. Nur kurz war die Spanne Zeit, die er dem Menschen zugemessen hatte, aber sie reichte aus, um zu erfahren, was Epidemien bedeuteten, Mißernten und Viehseuchen, Feuersbrunst, Dürre und Heuschreckeneinfall. Bauern und Bürger schickten sich in das Unvermeidliche und dankten Gott, wenn die Katastrophe halbwegs überstanden war.

Als die historische Forschung begann, ihr Augenmerk auch auf die gewöhnlichen Zeitgenossen und nicht mehr nur auf Könige und Heerführer zu richten, entstand allmählich ein ganz neues und wahrlich ernüchterndes Bild der Lebenswirklichkeit früherer Epochen. Im Mittelalter und noch bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts war die Welt ein Jammertal, und zu jedem Augenblick mußte der Mensch seines letzten Stündleins gewärtig sein.

Beredte Zeugen einer Welt voller Schrecken sind die Kirchenbücher. »Anno 1849«, heißt es da beispielsweise, »starb Anna Maria Weiler, des Simon Henrich Weiler, Tischlermeister und Kirchensenior angetrautes Eheweib, ihres Alters 33 1/2 Jahre, im Kindbett.

Aus Zehntausenden von solchen Eintragungen, die sich alle auf eine Landschaft in Nordhessen bezogen, hat der Sozialhistoriker Arthur E. Imhof in einer »Fallstudie« das Resümee gezogen »Für unsere Vorfahren war der grobschlächtig verfahrende Tod eine selbstverständliche Erscheinung in ihrem Alltag. Mittels einer Handvoll immer wiederkehrender Todesursachen Pocken, Bauchtyphus, Fleckfieber, Cholera, Pest schlug er übererall zu, in jedem Alter, in jedem Stand; er traf Männer wie Frauen, Säuglinge und Kinder, Verheiratete und Ledige.«

Dann schuf sich der Mensch die Wissenschaft. Bezwungen wurden die Pest, die Cholera und all die anderen großen Seuchen, die ehedem Hunderttausende in wenigen Tagen dahingerafft hatten.

Wasser- und Windmühlen befreiten den Menschen von der ärgsten körperlichen Fron. Am eigenen Leibe spürten die Zeitgenossen, was Fortschritt bedeutete.

René Descartes schrieb 1637 auf, was viele hofften: »Wenn wir die Kraft und die Wirkung des Feuers, der Luft, der Gestirne, der Himmel und aller anderen Körper, die uns umgeben, ebensogut verstehen wie die verschiedenen Handwerkstechniken, so könnten wir diese Naturkräfte in gleicher Weise für alle Zwecke benutzen! So könnten wir Menschen uns zu Herren und Besitzern der Natur machen!«

Tatsächlich sind wir heute durch die Wissenschaft so etwas wie die »Herren und Besitzer« der Natur geworden. Aher es geht uns mit der Wissenschaft wie dem Zauberlehrling in Goethes Ballade, der sich mit gefährlichen Mächten eingelassen hatte, ohne ihre Gesetze wirklich zu verstehen: »Herr, die Not ist groß! Die ich rief, die Geister, werd' ich nun nicht los.«

Die Wissenschaft, mit deren Hilfe wir die Naturkräfte beherrschen lernten, beherrscht uns heute selbst. War der Mensch in früheren Epochen der Natur preisgegeben, so fühlen wir uns heute der Wissenschaft ausgeliefert. Die natürlichen Flußläufe bereiten uns keine Sorgen, wohl aber die chemischen Abwässer der Fabriken; gegen Regen sind wir gewappnet, nicht aber gegen radioaktive Niederschläge; gegen Sonnenstrahlen können wir uns leicht schützen, wer aber schützt uns gegen die künstliche Atomkern-Strahlung? Wenn der Mensch die Welt betrachtet, sieht er, daß er es gleichsam nur mit sich selbst zu tun hat. Unsere Probleme sind die, welche wir uns selbst geschaffen haben.

Wie man vom »christlichen« Mittelalter spricht, weil das Denken und Handeln der Menschen vom Christentum geprägt war, muß man unsere Epoche das »wissenschaftliche Zeitalter« nennen. In geistiger und ökonomischer Hinsicht, im Alltag und im Lebensgefühl sind die Menschen unserer Zeit von der Wissenschaft geformt und abhängig, bis hin zu den Urängsten, denn an die Stelle der Furcht vor den apokalyptischen Reitern ist die Furcht vor einem globalen Kieg mit den von der Wissenschaft ersonnenen ABC-Waffen getreten.

Vom ausgehenden Mittelalter an geriet das etablierte Christentum in Krisen, weil seine Dogmen und seine Rolle in der Gesellschaft nicht mehr unbesehen akzeptiert wurden. Jetzt, am Ende des 20. Jahrhunderts, greift eine Wissenschafts- und Technikfeindlichkeit um sich, die mit der etablierten Wissenschaft unsere ganze Gesellschaftsordnung in Frage stellt.

Auf dem zweiten Vatikanischen Konzil 1962-1965 wurde von der katholischen Kirche früheres Fehlverhalten in bemerkenswerter Offenheit eingestanden. Im »Wechsel der menschlichen Geschichte« habe die Kirche, so konstatierten die Bischöfe, »eine Weise des Handelns« gezeigt, »die dem Evangelium wenig entsprechend, ja sogar entgegengesetzt war«.

Es ist an der Zeit, daß auch die Wissenschaft ihre Vergangenheit selbstkritisch analysiert. Fehler und Versäumnisse anzuprangern, darf nicht länger Außenseitern überlassen bleiben. Wissenschaftler selbst müssen voraussetzungslos, wie es dem eigenen Gesetz entspricht – ohne vorgefaßte Meinung also und ohne Beschönigung ?, zeigen, wo sich Gelehrte gegen den Geist der Wissenschaft vergangen haben.

Wie für die Kirche ist auch für die Wissenschaft die eigene Vergangenheit nicht immer ein Ruhmesblatt. Wir werden in den folgenden Kapiteln den Weg durch diese Vergangenheit antreten und zeigen, »wie die Wissenschaft ihre Unschuld verlor«, indem sie schlimme Verfehlungen beging wider ihren Geist. Unsere Absicht ist weder, die Sünden lustvoll nachzuempfinden, wie dies der Art mancher Moralapostel entsprechen mag, noch wollen wir die Wissenschaft in den Staub treten und uns an ihrer Erniedrigung erfreuen; wir suchen vielmehr zu lernen aus den Fehlern, um es in Zukunft besser zu machen. Noch immer steigt die Weltbevölkerung nach dem Gesetz des natürlichen Wachstums, und nach gleichem Gesetz nehmen die Probleme zu. Damit werden wir noch viel mehr als früher die Wissenschaft nötig haben. In dem erforderlichen Maße einsetzen aber können wir sie nur, wenn die Menschen das Vertrauen in die Wissenschaft wiedergewinnen.

Die Bischöfe auf dem zweiten Vatikanischen Konzil haben sich nach zwei Seiten hin behaupten müssen: gegen Stimmen, die eine kritische Reflexion über die geschichtliche Rolle der Kirche grundsätzlich als Sakrileg betrachten, und gegen solche, denen sie, die Bischöfe, nicht radikal genug vorgingen.

Ganz ähnlich gibt es heute unter Gelehrten, Ingenieuren und Industriellen viele, die noch ein ungebrochenes Verhältnis zum »Fortschritt« haben. Unreflektiert begrüßen sie jede technische Neuentwicklung, »weil sie Arbeitsplätze schafft«. Ihnen mögen die folgenden Kapitel die Augen öffnen: Am Baume der Wissenschaft reifen auch giftige Früchte, und vor ihnen müssen wir die Menschen schützen.

Ebenso entschieden aber wenden wir uns gegen Zeitgenossen, die aus den unzweifelhaft ernsten Verirrungen kurzerhand den Schluß ziehen, die Wissenschaft sei der Feind der Humanität. Wie Ende des 19. Jahrhunderts der Haß anschwoll gegen die Kirche, so scheinen heute die Kritiker der Wissenschaft jedes Maß zu verlieren. Im bösen Wort vom »Atomstaat« prangern sie die Wissenschaft und unsere res publica zugleich an, und schon erheben sich Stimmen, die die gänzliche Abschaffung der Wissenschaft fordern.

Wir aber meinen: Wir können die Wissenschaft nicht aufgeben, wenn wir uns nicht selbst aufgeben wollen.

[1982]

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