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Aufgebrochen.

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 (2025) (2025)

Roland Hensel
Aufgebrochen.
Spur des Ostens: Deutsche Porträts mit Wirkung.
352 Seiten, 81 Abb., Gb., 34,80 Euro
ISBN 978-3-86225-148-3
(Erscheint am 25. Oktober 2025)
37 Lebenswege, eine gemeinsame Erfahrung: Ostdeutsche Frauen und Männer aus Forschung und Technik erzählen von ihrer Arbeit, von Umbrüchen nach der Wende, von Erfolgen – und davon, was bis heute trägt.

Vorwort des Autors

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Über den Lebensweg von Menschen, die 1969 anfingen, in Jena Physik zu studieren

Dieses Buch zeichnet verschiedene Lebenspfade von höchst unterschiedlichen, blauen Menschen auf. Sie alle eint, dass sie 1969 an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena ein Physikstudium begannen und es erstmals in nur vier Jahren mit einem Diplom abschließen sollten. Sie teilten die Freude an Naturwissenschaft und Technik und sie waren neugierig auf kommende Herausforderungen. Sie entwickelten dabei eine hohe Beharrlichkeit, einen großen Durchhaltewillen und eine hohe Frustrationstoleranz. Alles Eigenschaften, die sie in ihrem späteren Berufsweg brauchten.

Alle waren sie Kinder der ersten Nachkriegsgeneration. Ihre Eltern hatten Krieg, Flucht und Vertreibung, Hunger und Not kennengelernt. Dies prägte auch deren Erziehungsstil. Und so entwickelten auch die Kinder trotz Entbehrungen den unbedingten Willen, das zu vollenden, was sie angefangen hatten. Aufgeben war keine Option. Fast allen Schülern fiel das Lernen in der Schule leicht. Deshalb wählten sie sich ja auch ein naturwissenschaftliches Studium. Die erste Herausforderung kam, als jeder in der Erweiterten Oberschule neben dem Abitur auch einen Facharbeiterabschluss machen mussten. Die Schüler lernten alle vor dem Studium den Arbeitsalltag kennen, sei es als Maurer, Weber, Elektriker, Schlosser oder Maschinenbauer, Molkereiarbeiter, Gärtner oder Krankenschwester. Viele der hier porträtierten Physiker empfanden den Lehrberuf als Bereicherung.

Die Friedrich-Schiller-Universität Jena war ein Vorreiter bei der Durchführung der Ziele der 3. Hochschulreform der DDR. Um innerhalb
von vier Jahren ein naturwissenschaftliches Studium mit dem Diplom abzuschließen, brauchte es einen heute kaum mehr nachvollziehbaren, streng getakteten Studienablauf. Dieser war geprägt von einer 70-Stunden-Woche von montags früh um 8:00 Uhr bis zum Samstagmittag um 12:00 Uhr. Dies und das gemeinsame Zusammenleben auf engstem Raum in den Vierpersonenzimmern in den Baracken des Studentenwohnheims Jena-Löbstedt prägte ein Gemeinschaftsgefühl, das bis heute gelebt wird und eigentlich ungewöhnlich ist.

Trotz des engen Zeitkorsetts organisierten die Physikstudenten ein Kulturpraktikum im Thüringer Wald, einen Physikerfasching in der Mensa, gründeten die bis zur Wende äußerst erfolgreiche Konzertreihe „Musik im Hörsaal 1“ und fuhren gemeinsam in den Sommerferien nach Bulgarien. Nicht alles war im Sinne der FDJ-Organisation und der Hochschulleitung. Doch die Studenten setzten sich durch und räumten Schwierigkeiten aus dem Weg. Auch dies war lebensprägend.

Jeder Student hatte seine eigene Einstellung zum Staat und definierte für sich rote Linien, die er nicht überschreiten wollte. Weil viele Studenten noch keinen Wehrdienst abgeleistet hatten, wurden Wehrdienst und Zivilschutzdienst jetzt integraler Bestandteil des Studiums. Wer aus christlicher Überzeugung den Dienst an der Waffe verweigerte, konnte nicht zum Zivilschutzdienst wechseln, sondern wurde exmatrikuliert.

Nach ihrem Studium wies die staatliche Absolventenlenkung den frisch diplomierten Physikern Arbeitsstellen in Industriebetrieben in der ganzen DDR zu. Für treue Genossen unter den Hochbegabten vergab die Sektion Forschungsstipendien; alle anderen konnten sich an Hochschulen oder Instituten im Land bewerben. Letztendlich arrangierte man sich, heiratete, wartete auf eine Wohnung und erzog seine Kinder. Nur ganz wenige entschieden sich, für einen anderen Weg. Sie sattelten um, ergriffen einen anderen Beruf oder verließen die DDR, wenn das Leben hier nicht mehr zu ertragen war, teils durch Flucht, teils durch Ausreiseantrag.

Mit dem Fall der Mauer wurde der Zusammenbruch der DDR eingeleitet. Dieses einschneidende Ereignis zerstörte bis dahin geradlinig verlaufende Karrieren, gab aber gleichzeitig den Blick auf neue Chancen und Möglichkeiten frei. In strukturell schwachen Gebieten, wie Südthüringen oder der Altmark, gab es von einem Tag auf den anderen keine Arbeitsplätze mehr. Kombinate, wie Carl Zeiss Jena, die Keramischen Werke Hermsdorf oder Robotron, schickten Tausende von Mitarbeitern in die Arbeitslosigkeit. Forschungseinrichtungen wurden zerschlagen oder mussten sich mühsam an die nun herrschenden Marktbedingungen anpassen.

Die Kolonialisierung des Ostens durch den Westen zeigte plötzlich ihre Wirkung. Während manche Physiker keinen Tag arbeitslos waren und ihre Arbeit fortsetzen konnten, hangelten sich andere von einer Weiterbildungsmaßnahme zur anderen, nur um am Ende wieder in der Statistik des Arbeitsamtes aufzutauchen. Freundschaften zerbrachen, weil Geheimnisse plötzlich öffentlich wurden. Alles wurde anders, selbst der Klingelton des Telefons.

Die Verlierer des Kalten Krieges wurden gnadenlos vorgeführt. Wie viele Tränen in dieser Zeit flossen, weiß niemand. Erst als sich der Staub des Umbruchs gelegt hatte, sahen die Menschen wieder Licht am Ende des Tunnels. Auch dies wird in den Gesprächen sichtbar, mit wie viel Mut, Durchhaltewillen und Frustrationstoleranz sich jeder Einzelne unter den neuen Randbedingungen eine neue Existenz aufbaute. Diese Eigenschaften wurden im Studium gelegt, denn damals wollte die DDR-Industrie schon disponible Physiker.

50 Jahre später ziehen sie Bilanz über ihr Leben. Viele widmen sich ihren Enkeln oder ihrer Familie und genießen den wohlverdienten Ruhestand, andere arbeiten immer noch, weil sie das wollen und weil sie das können. Deshalb zeigt dieses Buch das breite Spektrum der Möglichkeiten einer „Schicksalsgemeinschaft“, die sich zufällig am 1. September 1969 in Jena traf. Nichts war vorhersehbar und doch ergeben sich aus der Rückschau oft überraschende, außergewöhnliche und charakteristische Aspekte.

Mein Dank gilt all meinen Kommilitonen des Matrikels 69 der damaligen Sektion „Physik für den wissenschaftlichen Gerätebau“. Besonders überrascht war ich, wie viel Zustimmung ich erhalten habe und wie viel Vertrauen mir geschenkt wurde. Diese Offenheit hat mich tief berührt. Sie gab mir die Chance, dieses Stück Zeitgeschichte festzuhalten.

Gleichzeitig möchte ich mich auch bei der Kulturstiftung Thüringen bedanken, deren Stipendium im Jahr 2023 Anstoß und Ansporn war, diese Lebensgeschichten zu erforschen und zu erzählen.

Dresden, im September 2025
Roland Hensel

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https://www.gnt-verlag.de/aufgebrochen-portraets-ostdeutschland-mint-2-1148-vorwort.html (Stand: 14.09.2025. 14:17)

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