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Die Entwicklung des Meridiankreises 1700-1850

Übersicht | Inhalt | Zusammenfassung | Einführung

 (1996) (1996)

Klaus-Dieter Herbst
Die Entwicklung des Meridiankreises 1700-1850
Genesis eines astronomischen Hauptinstrumentes unter Berücksichtigung des Wechselverhältnisses zwischen Astronomie, Astro-Technik und Technik
253 Seiten, 63 Abb., Pb., 35,80 Euro
ISBN 978-3-928186-21-6
Der Autor zeigt, wie neue technische Herstellungsverfahren im Zuge der Industriellen Revolution einem astronomischen Instrument zum Durchbruch verhalfen.

 

Sechzehn Thesen als Schlußbetrachtung

Der rund 150 Jahre währende historische Prozeß des Übergangs zum Bau von Meridiankreisen innerhalb des astronomischen Instrumentenbaus kann hinsichtlich der in der Einleitung aufgeworfenen Fragestellungen mit folgenden Thesen umrissen werden:

  • Römer konstruierte um 1700 die ersten großen astronomischen Kreisinstrumente, darunter 1704 den ersten Meridiankreis, die Rota meridiana. Obwohl Kreisinstrumente damit um 1700 technisch realisierbar waren und diese zum Teil auch nachweislich präzisere Messungen als andere Instrumente ermöglichten, wurde die Idee dieses Gerätetyps nach dem Ableben von Römer 1710 verdrängt. Der Wettbewerb zwischen den Typen Meridiankreis und Quadrant (bzw. Zenitsektor) wurde zu Gunsten der letzten Gruppe entschieden. Quadrant und Zenitsektor genügten, um die Forderungen der Astronomen hinsichtlich der von der astronomischen Theorie verlangten Beobachtungsgenauigkeit zu erfüllen. Ein Bedürfnis nach einem Kreisinstrument war bei den Astronomen zu Beginn und in der Mitte des 18. Jahrhunderts noch nicht gegeben.
  • Dieses Bedürfnis wurde vermutlich nach Herschel's Rede »On the Parallax of the Fixed Stars« vor der Londoner Royal Society Ende 1781 im Zusammenhang mit rein astronomischen Problemen geweckt. Diese Rede markiert somit den Beginn der Realisierungsstufe innerhalb des Übergangs zum Bau von Meridiankreisen. Erst mit dem verstärkten Hinwenden der Astronomen zur Problematik der scheinbaren und wahren Bewegung der Sterne wurde aus der Sicht der damaligen Fachleute der Übergang vom Quadrant zum Kreisinstrument erforderlich. Die Astronomen und Astro-Techniker erkannten, daß mit dem Quadrant im Gegensatz zum Kreisinstrument die astronomischen Messungen prinzipiell nicht auf das am Ende des 18. Jahrhunderts notwendige Niveau verbessert werden konnten. Die Aussagen von Smeaton in seiner Ende 1785 vor der Royal Society gehaltenen Rede »Observations on the Graduation of Astronomical Instruments« lassen erkennen, daß dieser Erkenntnisprozeß im wesentlichen zu diesem Zeitpunkt abgeschlossen war. Ferner geht aus der Rede hervor, daß die im Verlaufe der Vorbereitungsstufe (ca. 1700 bis 1781) geschaffenen instrumentellen und technischen Potentiale zur Konstruktion astronomischer Meßgeräte mit Vollkreisen positiv aufgehoben wurden.
  • Erste von diesem Umdenken motivierte Bestrebungen zum Herstellen eines Kreisinstrumentes sind für die erste Hälfte von 1783 nachweisbar. Ramsden war es, der mit dem Bau des Theodoliten für Roy 1787, des Alt-Azimutalkreises für Piazzi 1789 und des Äquatoreals für Shuckburgh-Evelyn 1791 die endgültige Einführung großer Kreise an Meßinstrumenten vollzog und damit den prinzipiellen Weg für die Entwicklung der astronomischen Meßgeräte gewiesen hatte. Jedoch trug er durch das Nichterfüllen der Aufträge anderer Astronomen nicht dazu bei, die Kreisinstrumente relativ schnell an allen wichtigen Sternwarten zu verbreiten. Haupthersteller astronomischer Kreisinstrumente waren bis etwa 1800 Cary und Troughton.
  • Zu den bereits vor 1800 gebauten Alt-Azimutal- bzw. Durchgangskreisen und den Äquatorealen mit großen Kreisen von Ramsden, Cary und Troughton sowie den Borda-Kreisen von Lenoir kamen nach 1800 die großen astronomischen Wiederholungskreise von Baumann und Reichenbach, die Mauerkreise von Troughton und die eigentlichen Meridiankreise von Repsold, Troughton und Reichenbach hinzu. Da ein Qualitätssprung bei den astronomiscnen Messungen bereits allein durch den Übergang vom Quadrant zum Kreisinstrument erreicht worden war, bestand anfangs kein Bedürfnis nach Beschneidung der konstruktiven Vielfalt bei den Kreisinstrumenten durch Einengung auf den Typ des Römer'schen Meridiankreises. Vielmehr ging es den Astronomen zunächst um das Vervollkommnen des Umgangs mit den neuen Meßgeräten. Im Zusammenhang mit der Verbreitung der Kreisinstrumente Ende des 18. Jahrhunderts und mit der Verbesserung der Anwendungs- und Berichtigungsverfahren bei diesen spielte Hans Moritz Graf von Brühl eine bislang in der astronomischen Geschichtsschreibung nicht gewürdigte große Rolle.
  • Die Meridiankreise von Repsold 1803 und Troughton 1806 belegen, daß dieser Gerätetyp bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts in der notwendigen Qualität hergestellt werden konnte. Das Schaffen der technischen, feinmechanischen und optischen Voraussetzungen war somit eine erforderliche und begünstigende, aber keine hinreichende Bedingung für den Übergang zum vorrangigen Bau von Meridiankreisen. Das Erkennen der Priorität des Meridiankreises innerhalb der Gruppe der Kreisinstrumente gelang zwischen 1810 und 1815, wobei sich der entscheidende Durchbruch 1814/15 vollzog. Maßgebend hierfür war die Einsicht in die zum Teil instrumentelle Bedingtheit der von den Astronomen beklagten fehlgeschlagenen Versuche, die Sternpositionsangaben untereinander in Übereinstimmung zu bringen. Mit der Herstellung mehrerer Meridiankreise und ihrer Aufstellung ab 1819 fand die Realisierungsstufe ihren Abschluß.
  • Auf der Basis von Meßergebnissen gewannen die Astronomen in den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts die Gewißheit, daß im Meridiankreis derjenige Typ eines Kreisinstrumentes gefunden worden war, mit dem die aufgetretenen Probleme in der Positionsastronomie gelöst werden konnten. Davon auszunehmen sind die britischen Astronomen und Astro-Techniker, die bis kurz vor 1850 dem Mauerkreis Vorteile gegenüber dem Meridiankreis zuschrieben. Erst mit der von Airy vorangetriebenen Aufstellung des großen Greenwicher Kreisinstrumentes wurde auch an den britischen Sternwarten der Meridiankreis als das Hauptinstrument eingeführt. Damit kann die Durchsetzungsstufe als abgeschlossen gelten.
  • Bei einem Vergleich des Übergangs zum Bau von Kreisinstrumenten im allgemeinen mit dem zum Bau von Meridiankreisen im speziellen wird deutlich, daß der astrotechnische Fortschritt in beiden Fällen durch den gleichen Tatbestand ausgelöst wurde: Erst als dem Quadranten (den Kreisinstrumenten allgemein) objektiv keine Entwicklungsmöglichkeiten bezüglich seines (ihres) Anwendens für das Lösen anstehender Forschungsaufgaben in der Astronomie mehr innewohnten, geriet der dazu konkurrierende und technisch bereits vorher realisierbar gewesene Typ des Kreisinstrumentes (des Meridiankreises als speziellem Kreisinstrument) in die Interessensphäre der Astronomen, da dieser größere Potenzen für das Erhöhen der Genauigkeit astronomischer Messungen besaß als der Quadrant (die anderen Varianten eines Kreisinstrumentes). Die Erkenntnis, daß nur durch das Ausschöpfen dieser Potenzen der Progreß in der astronomischen Forschung gesichert werden konnte, war die entscheidende und von den damaligen Astronomen und Astro-Technikern zu erbringende Leistung. Damit ergibt sich: Der mit großen Umbrüchen verbundene Fortschritt in der Astro-Technik (um 1800) brach sich erst dann Bahn, als den Wissenschaftlern bewußt wurde, daß das Alte in keiner Weise mehr geeignet war, damals aktuelle Forschungsaufgaben zu lösen. So lange wurde versucht, das Alte kontinuierlich zu vervollkommnen, obwohl das alternative Neue bereits realisierbar war und in Einzelfällen schon realisiert worden war. Vor allem der Übergang vom Quadrant zum Vollkreis erweist sich somit aus wissenschaftstheoretischer Sicht als ein im Denken der damaligen Fachleute ablaufender Paradigmenwechsel.

Vor dem Hintergrund der Untersuchung der Einführung des Meridiankreises in den astronomischen Instrumentenbau wurde auch der Aspekt der technischen Fähigkeiten der Astro-Techniker zur Herstellung von Kreisinstrumenten beachtet. Das dabei Erkannte und im Zusammenhang mit der im Abschnitt 1.4. aufgeworfenen Problematik der Wechselwirkung von Astronomie und Technik Stehende kann in folgenden Thesen zusammengefaßt werden.

  • Für das Herstellen der Zapfen und Kreise als den wichtigsten Elementen astronomischer Kreisinstrumente war das Verwenden einer präzisen Drehbank ein wichtiges Merkmal. Die von den Astro-Technikern Ramsden und Reichenbach konstruierten Schraubenschneidmaschinen und Drehbänke waren in der jeweiligen Zeit Spitzenerzeugnisse. Die Genauigkeit bei der Zapfenbearbeitung betrug bei den englischen Astro-Technikern Ende des 18. Jahrhunderts 3,2 bis 6,2 µm und bei Reichenbach in Deutschland Anfang des 19. Jahrhunderts rund 2 µm.
  • Zur Prüfung der Zapfen astronomischer und geodätischer Instrumente sowie anderer gedrehter Gegenstände wurde erstmals von Reichenbach der Fühlhebel verwendet.
  • In bezug auf die Entwicklung der Drehbank (-maschine) und die Ausbildung des technischen Meßwesens ist es für die Zeit um 1800 berechtigt, von einem Wissens- und Könnenstransfer von der Astro-Technik zur Technik auszugehen. Damit basierte der technische Fortschritt während der industriellen Revolution, vor allem in deren Anfangsphase, in dem für die Ausweitung dieser Umwälzung wichtigen Bereich des Werkzeugmaschinenbaues auch auf dem Fundus der technischen Erfahrungen der Astro-Techniker. Es ist sehr wahrscheinlich, daß Maudslay im Zusammenhang mit der Entwicklung seiner Universaldrehmaschine Ende des 18. Jahrhunderts Anregungen von führenden Astro-Technikern in London, speziell von Ramsden erhalten hat. Wegen der fundamentalen Bedeutung der Maudslay'schen Leistungen sollte diese Vermutung durch weitere Nachforschungen geprüft werden. Auch aus astrotechnischen Motiven heraus entwickelte Reichenbach Anfang des 19. Jahrhunderts Präzisionsdrehbänke und führte den Fühlhebel beim Präzisionsdrehen ein. Damit leistete er Bedeutsames für die sich ausbildenden Bereiche des deutschen Maschinenbaues und des industriellen Meßwesens.
  • Im Kontext der Erzeugung ganzer Kreise für die Kreisteilmaschinen führte Ramsden in den 60er Jahren des 18. Jahrhunderts die Gußkonstruktion in den Instrumentenbau ein. Allerdings griffen er und andere englische Astro-Techniker bei den Kreisen der astronomischen Instrumente auf das Verschmelzen, Verschrauben und Vernieten vieler einzelner Metallstücke zurück. Erst Reichenbach übertrug das Gießen aus einem Stück konsequent auf das Herstellen der großen Kreise (Durchmesser bis rund 1 m) für astronomische Meßgeräte.
  • Um 1800 bewegten sich die Astro-Techniker mit ihren Anforderungen hinsichtlich der Gußkonstruktionen großer astronomischer Kreise an der vordersten Front des gießereitechnischen Könnens. Obwohl erst nach weiteren Detailstudien entschieden werden kann, inwiefern ein gegenseitiges Beeinflussen von Astro-Technik und Gießereiwesen vorlag, ist ein enges Wechselverhältnis zwischen beiden Gebieten wahrscheinlich.
  • Die Reibung trat als technisches Problem sowohl im Intrumentenbau als auch im Maschinenbau auf. Da die Astro-Techniker umfangreiche Kenntnisse über die Verminderung der Reibung zwischen Metallteilen besaßen, die ebenso für Maschinenbauer relevant waren, ist auch hier ein Wissens- und Könnenstransfer von der Astro-Technik zum Maschinenbau zu vermuten.
  • Das Prinzip, durch gegenseitiges Abschmirgeln von 3 Richtschienen (aus Stahl) vollkommen ebene Flächen zu erhalten, ließ Cassini bereits 1785 anwenden. Es ist anzunehmen, daß es ebenfalls Ramsden und anderen bedeutenden Astro-Technikern bekannt war. Hinsichtlich eines eventuell auch in diesem Fall bestandenen Transfers von technologischen Fähigkeiten zwischen Astro-Technik und Maschinenbau ist dies von Bedeutung, da allgemein Maudslay die Erfindung des Dreiplattenverfahrens und dessen Einführung in die Präzisionstechnik ab 1794 zugeschrieben wird.
  • Es konnte exemplarisch ein direktes Zusammenwirken von Astro-Technikern und Maschinenbauern (bzw. Ingenieuren) sowohl beim Bau von astronomischen Instrumenten als auch von Maschinen nachgewiesen werden. Die Beispiele betreffen den Astro-Techniker Cary und den Ingenieur Smeaton, den Astro-Techniker Simms und die Techniker der Firma Maudslay und Field sowie Ransomes und May, den Astro-Techniker Repsold und den Maschinenbauer Libbertz sowie Wehnke, den Astro-Techniker Lassell und den Maschinenbauer Nasmyth, den Astro-Techniker Pistor und die Maschinenbauer Freund und Egells. Auch zwischen dem Astro-Techniker Ramsden und Smeaton gab es Beziehungen. Reichenbach und Nasmyth waren Astro-Techniker und Maschinenbauer in Personalunion.
  • Für die wissenschaftstheoretisch relevante Frage nach dem Wechselverhältnis von Wissenschaft und Technik ergibt sich für die Astronomie, daß ihr über den Bereich der Astro-Technik indirekt wirkender Einfluß auf den Fortschritt vor allem im Maschinenbau und im technischen Meßwesen um 1800 weit größer war, als es mit Beispielen bislang belegt war. Durch den indirekten Charakter der Einflußnahme unterscheidet sich die Wissenschaft Astronomie grundlegend von den Wissenschaften Physik und Chemie. Schließlich können im allgemeinen nicht die astronomischen Erkenntnisse selbst in die Erzeugung materieller Güter einfließen, sondern lediglich Mittel und Methoden, die von Astronomen und vor allem von Astro-Technikern für das Lösen wissenschaftsinterner Problemstellungen erdacht worden waren.

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